Hildegard Müller

"Wir haben den Innovationsturbo angeworfen"

Seit dem 1. Februar 2020 ist Hildegard Müller Präsidentin des DVF-Mitgliedsunternehmens Verband der Automobilindustrie (VDA). Als ehemalige CDU-Politikerin war sie von 2005 bis 2008 Staatsministerin im Bundeskanzleramt und von 1998 bis 2002 erste weibliche Bundesvorsitzende der Jungen Union. Im Interview mit dem DVF sprach die VDA-Präsidentin über das Mobilitätsbedürfnis der Menschen und die Zukunft der deutschen Autoindustrie.

copyright: VDA
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Frau Müller, ist das neue Konzept der Automesse als Mobilitätsevent aufgegangen?

Hildegard Müller: Die IAA Mobility war ein wirklich großer Erfolg. Was sich schon dran zeigt, dass sie unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie als erste große internationale Messe hat stattfinden können. Auch die mehr als 400 000 Besucher haben die hohe Attraktivität der Veranstaltung mit ihrem neuen Konzept bewiesen. Besonders interessant ist, dass fast 70 Prozent der Besucherinnen und Besucher jünger als 40 Jahre waren. Das zeigt, dass die jungen Leute an Klimaschutzlösungen, aber auch an Mobilität und individuellem Verkehr interessiert sind.

Sollte das Konzept weiterentwickelt werden?

Erst einmal glaube ich, dass die Grundidee sehr richtig ist, die verschiedenen Ebenen miteinander zu vernetzen. Also Hersteller, Zulieferer, Startups, Fahrradindustrie und viele andere. Das wollen wir, ebenso wie die Diskussion mit den Menschen – auch auf öffentlichen Plätzen - weiter ausbauen. Die IAA-Konferenz, mit der wir einen Beitrag zur Diskussion über Mobilität leisten, wird daher künftig noch mehr in den Fokus rücken.

Die IAA hat die veränderte Wahrnehmung der Automobilindustrie als Teil der Mobilität und nicht mehr als das Herzstück der Mobilität gezeigt. Was folgt für die Branche daraus?

Die deutsche Industrie, das war auf der IAA Mobility zu sehen, ist ganz vorn auf dem Weg zu Innovation und Digitalisierung. Und damit zu Autos, die noch mehr Nutzen für die Verbraucher, noch mehr Sicherheit und  Flexibilität darstellen.

Zum Beispiel?

Denken Sie an die Entwicklungen zum autonomen Fahren, aus denen sich interessante Ideen für Shuttle-Systeme ableiten lassen sowohl im städtischen wie im ländlichen Raum. Es zeigt sich, dass die Autoindustrie einen Beitrag zur Klimaneutralität leisten und gleichzeitig eine gute Rolle im Verkehr der Zukunft spielen kann.

Es zeigt sich, dass die Autoindustrie einen Beitrag zur Klimaneutralität leisten und gleichzeitig eine gute Rolle im Verkehr der Zukunft spielen kann.

Diese Rolle ist umstritten.

Für mich stellt sich die Frage, was brauchen die Menschen in diesem Land? Wir führen diese Diskussion viel zu sehr aus der Prenzlauer-Berg-Perspektive. Wir haben deshalb eine Umfrage mit dem Meinungsforschungsinstitut Allensbach gemacht. Die zeigt, dass die Menschen grundsätzlich für Mobilitätsformen offen sind, aber sie wollen Mobilität, die ihnen hilft, ihr Leben zu organisieren. Wer also fordert, dass Menschen vom Auto umsteigen, der muss zugleich Alternativen anbieten. Ich gehe aber davon aus, dass das Auto weiter Teil der Lösung sein wird.

Die Branche lotet ja unterschiedliche Strategien aus. Die einen konzentrieren sich auf ihr Kerngeschäft, also den Bau von Fahrzeugen. Andere setzen auf den Ausbau der Services wie beispielsweise das Sharing. Gibt es einen Königsweg?

Wir haben noch keine Antworten auf alle Frage zur Mobilität der Zukunft. Deshalb kann es auch noch keine einheitliche Strategie geben. Und deshalb brauchen wir genau diesen Wettbewerb um Ideen.

Die Digitalisierung ist Kernkompetenz für die künftige Mobilität. Lange galten ausländische Unternehmen auf diesem Gebiet als führend. Hat die deutsche Industrie aufgeholt?

Wir brauchen uns nicht zu verstecken. Wir haben den Innovationsturbo angeworfen, und das sieht man nun in all denen neuen Modellen und Technologien. Allein in der Elektromobilität kommen in den nächsten zwei Jahren 150 Modelle auf den Markt, es werden über 150 Milliarden Euro in neue Antriebe, die Elektromobilität und die Digitalisierung investiert. Die Wertschätzung für die Automobilindustrie ist in den letzten Jahren wieder stark gestiegen. Ich sehe uns gut aufgestellt, aber in der heutigen Zeit dürfen wir angesichts des globalen Wettbewerbs niemals nachlassen.

Wir brauchen uns nicht zu verstecken. Wir haben den Innovationsturbo angeworfen, und das sieht man nun in all denen neuen Modellen und Technologien.

Das gilt auch für die Folgen der weltweiten Verflechtung. Der akute Chipmangel zeigt doch, wie abhängig die deutsche Industrie ist.

Und zwar nicht nur die Autobranche. Wir müssen uns in Deutschland und Europa ehrlicher machen, was das Thema Rohstoffe betrifft. Da gehen wir von einem viel zu geringen Bedarf aus. Ich wünsche mir eine aktive Rohstoff-Außenpolitik, die unseren Bedarf mit Handelsabkommen sichert. Der Halbleitermangel wirft auch die Frage auf: Welche Unabhängigkeit braucht Europa? Meine Antwort: Wir müssen hier den wesentlichen Teil des Bedarfes selbst herstellen. Und deshalb ist es richtig, bei Batterien oder Halbleitern auf eigene Produktion in Deutschland und Europa zu setzen.

Braucht es dafür staatliche Unterstützung?

Es braucht staatliche Begleitung. Zu erwarten, dass sich im weltweiten Wettbewerb alles so reguliert, dass wir in Deutschland und Europa damit zufrieden sein können, ist ein Irrglaube. Wenn Amerikaner und wenn China Milliarden schwere staatliche Programme ankündigen, muss Europa gleichwertige Wettbewerbsbedingungen schaffen.

Wenn Amerikaner und wenn China Milliarden schwere staatliche Programme ankündigen, muss Europa gleichwertige Wettbewerbsbedingungen schaffen.

Die Bundesregierung ist nicht ganz untätig gewesen, etwa mit staatlichen Förderprogrammen für die Batterietechnologie. Reicht Ihnen das?

Die Gespräche in der Konzertierten Aktion Mobilität waren gut und richtig. Wir müssen aber noch schneller werden. Und eine neue Bundesregierung muss sich aktiver in Europa einbringen. Denn wer die engagiertesten Klimaziele in der Welt hat, und das haben wir, der muss auch die besten Standortbedingungen haben. Da sind schon Fragen nach der Steuer- und Abgabenlast zu stellen, nach Breitband-Infrastruktur oder der Digitalisierung der Verwaltung. Das gilt für jede neue Bundesregierung, egal wer sie stellt.

Umgekehrt dürfte die neue Regierung auch Erwartungen an die Autoindustrie haben. Ein Verbot von Verbrenner-Motoren ab 2030, Tempo 130 auf Autobahnen, Tempo 30 in Innenstädten, Sperrung ganzer Zentren für den Pkw-Verkehr, Fahrradautobahnen und andere Ideen werden heftig diskutiert und wären schon einschneidende Maßnahmen für die Branche.

Da scheint mir vieles reine Symbolpolitik zu sein. Dass man der Situation angepasst fährt, das ist ja selbstverständlich. Aber bedarf es dafür tatsächlich Blechschilder, die zu jeder Tageszeit, bei jedem Wetter alles regeln? Wäre eine digitale Verkehrssteuerung nicht viel sinnvoller? Die Autobahnen sind ohnehin mit einem Mautsystem ausgerüstet, ließe sich das nicht auch für angepasste Geschwindigkeiten nach Wetterlage oder Verkehrsaufkommen nutzen?

Was erwartet die Automobilindustrie von einer künftigen Bundesregierung?

Wenn wir Menschen für ein anderes Mobilitätsverhalten gewinnen wollen, dann nicht durch Verbote, sondern durch Anreize und Angebote. Das ist oft nicht der Fall. Es gibt da keine einfachen Lösungen, schon gar kein Schwarz-Weiß. Wir sehen uns deshalb auch als Anwalt der Menschen im ländlichen Raum, die sich Mieten in der Stadt nicht leisten können und trotzdem in angemessener Zeit zu ihrem Arbeitsplatz kommen wollen. Es werden auch nicht alle Handwerker in Zukunft mit dem Lastenfahrrad unterwegs sein können. Es braucht angepasste Konzepte, und zwar unter Beteiligung der Bürger.

Wenn wir Menschen für ein anderes Mobilitätsverhalten gewinnen wollen, dann nicht durch Verbote, sondern durch Anreize und Angebote.

Was wäre für Sie ein absolutes No-go?

Dass die Kosten am Standort Deutschland weiter steigen. Wir haben schon heute die höchsten Löhne in der Automobilindustrie weltweit, mit die höchsten Unternehmenssteuern der Welt und die höchsten Energiekosten. Es besteht die Gefahr, dass die Jobs aus Europa weggehen.

Frau Müller, zurzeit beobachten wir ein Phänomen. Die Benzinpreise explodieren, jede neue Bundesregierung wird klimapolitische Maßnahmen mit negativen Auswirkungen für die Automobilindustrie beschließen. Trotzdem kaufen die Menschen so viele Autos wie nie.

Das hat eben etwas mit den Bedürfnissen zu tun. Das muss Ausgangspunkt für jede Veränderung sein und nicht das Wunschdenken. In Coronazeiten haben die Menschen sich eben sicherer gefühlt im eigenen Wagen. Wenn Sie selbst in Ballungsgebieten nicht von A nach B kommen, dann werden die Menschen sich fürs Auto entscheiden. Wenn wir den Menschen nicht helfen, ihre Lebensrealität in den Griff zu bekommen, dann ist es wohlfeil, mit dem erhobenen Zeigefinger moralisch zu diskutieren.

Die „DVFragt nach-Interviews“ geben die Meinung der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wieder.